Digital resources in the Social Sciences and Humanities OpenEdition Our platforms OpenEdition Books OpenEdition Journals Hypotheses Calenda Libraries OpenEdition Freemium Follow us

Wie kann man starke Frauen im Unterricht sichtbar machen? Ein Unterrichtskonzept zur Kernphysikerin Lise Meitner (1878-1968)

 
von Anna Hemberger

Dieser Blog-Beitrag stellt ein Unterrichtskonzept zur historischen Person Lise Meitner (1878-1968) vor. Ausgelegt ist dieser Entwurf für die Oberstufe (9. oder 10. Klasse) einer Realschule. Anhand ausgewählter Materialien kann man sich mit der Biografie Lise Meitners und ihrem Wirken vertraut machen und zentrale Punkte ihrer Karriere als Kernphysikerin und Flucht im Nationalsozialismus erlernen. Diese besondere Stunde ist durch den Spielraum für Lehrer:innen im Rahmen des neuen LehrplanPlus für Bayern möglich und kann entweder als Exkurs-Stunde zum Nationalsozialistischen Regime angewendet werden oder für eine Einordnung in die Entwicklungen zu Zeiten des Kalten Kriegs bzw. der Aufrüstung nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch für eine Vertretungsstunde wäre es eine passende Gelegenheit, Lise Meitner vorzustellen.

Am Ende des Beitrags finden Sie eine Dokumentensammlung mit Arbeitsmaterialien, Hefteinträgen und Projektarbeit sowie eine Literaturliste.

Wer war Lise Meitner?

„Herzlich liebe ich die Physik, ich kann sie mir schwer aus meinem Leben wegdenken.“

Am 7. November 1878 wurde Elise Meitner in Wien geboren. Ihre Eltern waren jüdischer Abstammung, obwohl ihr Vater, ein Rechtsanwalt, sich vom jüdischen Glauben sehr früh losgesagt hatte. Sie war eins von sieben Geschwistern und ging bis zu ihrem 14. Lebensjahr in eine Bürgerschule für Mädchen. Früh zeigte sie ein großes Interesse für Physik und Mathematik. 1901 holte sie extern ihr Abitur nach und nahm sogleich ihre Studien an der Universität Wien auf. Im Februar 1906 promovierte sie und erhielt den Titel phil. Doktor. Sie blieb zunächst am physikalischen Institut in Wien, jedoch ohne offizielle Stelle. 1908 ließ sie sich evangelisch taufen. Meitner entschied sich 1907 nach einem Vortrag von Max Planck (1858-1947), einige Semester nach Berlin zu gehen. Heinrich Ruben (1865-1922), der Direktor des physikalischen Instituts an der Berliner Universität machte sie mit einem Chemiker bekannt, der aktuell nach einem Mitarbeiter suchte – Otto Hahn (1879-1968). Hahn hatte sich ein Labor eingerichtet, um seiner Forschung zur Radioaktivität nachzugehen. Für Frauen war es allerdings in Preußen per Gesetz noch bis 1909 verboten zu studieren. Lise Meitner erhielt die Erlaubnis, am Institut unentgeltlich mitzuarbeiten, solange sie nicht durch den großen Arbeitssaal der Studenten ginge.

Im Dezember des Jahres 1907 wurde sie als dritte Frau in die Deutsche Physikalische Gesellschaft aufgenommen. Ihre Arbeit mit Hahn brachte bald die ersten Erfolge, vor allem im Bereich der ß-Strahlen. Bei der Tagung der Deutschen Naturforscher und Ärzte 1909 lernte sie unter anderem Albert Einstein (1879-1955) und Max von Laue (1879-1960) kennen. Mit Otto Hahn entdeckte sie eine radioaktiver Isotope, darunter Protactinium 231, Actinium C und Thorium D. Seit Hahn 1909 den radioaktiven Rückstoß erkannt hatte, verfügten sie über eine Methode, verschiedene radioaktive Substanzen voneinander zu trennen. 1911 verbesserten sich Lise Meitners Arbeitsmöglichkeiten durch die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) unter dem Protektorat des Kaisers zur Förderung der Wissenschaft. Dort arbeitete sie zuerst als (unbezahlter) Gast unter Otto Hahn, später aber ab 1913 bekam sie Gehalt durch die Fonds des „Vereins zur Förderung chemischer Forschung“.

1912 wurde das Kaiser-Wilhelm-Insti­tut für Chemie in Berlin-Dahlem eröffnet. Heute: Hahn-Meitner-Bau in der Thielallee 63, Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/1/1f/Dahlem_Thielallee_Hahn-Meitner-Bau.JPG/500px-Dahlem_Thielallee_Hahn-Meitner-Bau.JPG, Foto: Peter Kuley

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete sie sich freiwillig als Röntgenschwester für den Lazaretteinsatz. 1917 kehrte sie nach Berlin zurück und nahm ihre Arbeiten im KWI für Chemie wieder auf.

Seit 1918 leitete sie eine eigene Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie. 1922 habilitierte sie sich und erhielt die Venia legendi erteilt, also die Berechtigung zu lehren. Ihre Vorlesungen bereitete sie immer akribisch vor. 1926 wurde sie zur außerordentlichen Professorin für experimentelle Kernphysik an der Berliner Universität ernannt.

Anfang der 1920er Jahre gestaltete sich ihr Leben zunehmend positiver. Sie konnte eine Dachgeschosswohnung in der Direktorenvilla des KWI für Chemie beziehen. Doch dann verdüsterte sich das politische Klima in Deutschland. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde ihr aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ das Recht entzogen, Vorlesungen zu halten. Da sie österreichische Staatsbürgerin war, konnte sie ihre Stelle noch behalten.

1934 überredete Lise Otto Hahn mit ihr nach Transuranen zu suchen. Die beiden zogen den Chemiker Fritz Strassmann (1902-1980) hinzu und arbeiteten bis 1938 gemeinsam in Berlin.

Nach der Annexion Österreichs galt Liese Meitner als deutsche Staatsbürgerin und fiel nun unter die Nürnberger Rassegesetze von 1935. Mithilfe eines niederländischen Physikers floh sie am 13. Juli 1938 über Holland weiter nach Kopenhagen zu Niels Bohr (1885-1962). Anschließend ging es nach Stockholm, wo sie am Nobel-Institut beim Physiker Manne Siegbahn (1886-1978) eine Stelle antrat. Da dort kein Radiochemiker arbeitete, konnte Lise Meitner ihre Forschung nicht weiterführen.

Mit Otto Hahn blieb sie in Briefkontakt und beriet ihn hinsichtlich eines Phänomens, das er sich selbst nicht erklären konnte, und das er als „Zerplatzen“ des Urankerns beschrieb (Ernst 1992). Lise Meitner forschte mit ihrem Neffen Otto Frisch (1904-1979) selbst an diesem Problem. Sie erkannten, dass Urankerne bei der Kollision mit Neutronen in leichtere Bruchstücke, die sie als Barium identifizierten, „zerplatzte“. Sie deuteten dies theoretisch zu Beginn des Jahres 1939 als als Kernspaltung (nuclear fission) und berechneten die große freigesetzte Energiemenge. Sowohl Hahn und Straßmann als auch Meitner und Frisch publizierten 1939 ihre Ergebnisse, doch nur Otto Hahn erhielt 1945 den Nobelpreis für Chemie für „die Entdeckung der Spaltung schwerer Atomkerne“. Lise Meitner hielt diese Ehrung für verdient, wusste aber auch, dass sie und Frisch etwas Wesentliches zum Verständnis des Uranspaltungsprozesses beigetragen hatten, da Hahn sich der damit verbundenen großen Energieentwicklung nicht bewusst gewesen war.

Der Matilda Effekt

Oft wird es als Matilda-Effekt charakterisiert, dass Lise Meitner nicht den Nobelpreis erhielt. Der Matilda-Effekt besagt, dass die wissenschaftlichen Leistungen marginalisierter Gruppen weniger oder überhaupt keine Anerkennung bekommen, und Leistungen von Frauen oft Männern zugeschrieben werden. Im Fall von Lise Meitner geht es nicht nur um den Nobelpreis für Chemie, sondern auch um andere Preise, die sie nicht erhielt. 48 Mal hatten Fachkollegen Lise Meitner für den Nobelpreis nominiert – erfolglos. Die Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter, die den Matilda-Effekt beschrieb, überlegte deshalb, dieses Phänomen „Lise-Effekt“ zu nennen, entschied sich als Namensgeberin für die amerikanische Feministin und frühe Wissenssoziologin Matilda Joslyn Gage (1826-1898).

Zahlreiche Auszeichnungen, wie beispielsweise den ersten Otto-Hahn-Preis 1955 und die Max-Planck-Medaille sowie zahlreiche Ehrenmitgliedschaften zeugen davon, dass Lise Meitner durchaus gesehen und gewürdigt wurde. Nicht immer war sie darüber glücklich: Nach dem Abwurf der US-amerikanischen Atombomben über Hiroshima und Nagasaki 1945 bezeichneten Journalisten Lise Meitner als „Mutter der Atombombe“, und sie wurde 1946 vom Women’s National Press Club zur Woman of the Year gewählt, weil sie dazu beigetragen habe den Krieg zu beenden. Tatsächlich aber war Lise Meitner zur Pazifistin geworden und hatte die Mitarbeit an der Atombombe ausdrücklich abgelehnt, ja sogar gehofft, dass diese nicht gebaut werden konnte.

In der Verknüpfung ihres Namens mit der Entwicklung der Atombombe liegt viel Tragik: Dies hat sie bekannter gemacht, wurde ihr aber weder als Wissenschaftlerin noch als Mensch gerecht.

Brief in Maschinenschrift
Brief von Lise Meitner an den Schriftsteller und Einsteinbiografen Carl Seelig (1894-1962). Darin spricht sie über ihre ablehnende Haltung gegenüber der Atombombe, 28.09.1959, Quelle: Archiv der ETH Zürich, Hs 304:823, https://etheritage.ethz.ch/wp-content/uploads/2018/10/MeitnerSept1959dpi100.jpg

Lise Meitners späte Jahre

Lise Meitner in ihren späten Jahren, Quelle: Deutsches Historisches Museum, Inv.-Nr.: BA 95/245, https://www.dhm.de/lemo/fileadmin/medien/lemo/images/meitner.jpg, Foto: Tita Binz

1947 wechselte Lise Meitner an die Königliche Technische Hochschule Stockholm  in Stockholm, um dort die kernphysikalische Abteilung zu leiten. 1948 nahm sie zusätzlich zu ihrer österreichischen auch die schwedische Staatsbürgerschaft an. In den 1950er Jahren folgten zahlreiche Ehrungen, wie etwa die Aufnahme in die Royal Society 1955 und 1956 der deutsche Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste.In einem kurzen Resümee ihrer Lebenserinnerungen, das sie 1964 unter dem Titel Looking Back veröffentlichte, schrieb sie, dass ihr Leben nicht immer einfach gewesen sei, aber aus ihrer Sicht erfüllt von den großen physikalischen Entwicklungen ihrer Zeit und den „großartigen und liebenswürdigen“ Menschen, mit denen sie während ihres Lebens zusammenarbeitete und Kontakt hielt. (zitiert nach Corradini/Geiger/Mazohl 2021, S. 175).

Lise Meitner starb am 27. Oktober 1968 im Alter von 89 Jahren in Cambridge. Zahlreiche nachrufe und Ehrungen erschienen nach ihrem Tod.

Nach ihr wurden Straßen, Institute und Preise benannt und 1997 erhielt das neu entdeckte Element mit der Ordnungszahl 109 die Bezeichnung Meitnerium.

Denkmal für Lise Meitner im Ehrenhof der Humboldt-Universität Berlin, Unter den Linden, geschaffen von der Bildhauerin Anna Franziska Schwarzbach 2014, Quelle: https://www.kulturtechnik.hu-berlin.de/wp-content/uploads/2023/03/Bild_02.jpg

Wie kann man diese Biografie in den Schulunterricht einbetten und dies mit dem Fachlehrplan begründen?

Beispielsweise könnte in der 10. Klasse zum Kalten Krieg ein Exkurs vorgenommen werden, in dem man mit den Schüler:innen darüber spricht, wie es überhaupt zur Erfindung von Atomwaffen kam und welche Wissenschaftler (außer Robert Oppenheimer 1904-1964) daran beteiligt waren. Die atomare Aufrüstung ist letztendlich auf die Entdeckungen von Lise Meitner und Otto Hahn zurückzuführen. Hierbei könnte man sich fachübergreifend mit anderen Lehrkräften aus Chemie und Physik absprechen, die eine theoretische Einordnung über Kernspaltung vornehmen könnten. Fächerübergreifende Kompetenzen könnten so gestärkt und zu einer besseren Vernetzung der Thematik im Gedächtnis der Schüler:innen führen.

Im LehrplanPlus für Bayern steht:

Welche Kompetenzen und Ziele werden hierbei verfolgt?

Die Schüler:innen sollen bei der Erarbeitung der gestellten Aufgaben ihre bisher erworbenen methodischen Kompetenzen eigenständig anwenden, indem sie anspruchsvolle Darstellungen und komplexe Quellen verschiedener Gattungen (z.B. Briefwechsel zwischen Lise Meitner und Otto Hahn, ausländische Pressetexte, zahlreiche Fotos und Reden) vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit reflektiert auswerten und diese Medien und ihre historischen Inhalte zielorientiert, selbständig und kritisch verwenden.

Das sogenannte Leitziel stellt abstrakte Zielvorgaben in den Curricula dar. In der geplanten Unterrichtsstunde soll 1. vor allem die Urteilskompetenz geschult werden. Dies bedeutet, dass die Schüler:innen die Fähigkeit, zwischen Sach- und Werturteilen zu unterscheiden, erlangen. Sie gelangen zu argumentativ gestützten Sachurteilen, indem sie beispielsweise zwischen Ursachen und Folgen differenzieren und historische Entwicklungen zunehmend differenziert beurteilen. Außerdem wird 2. die Narrative Kompetenz weiterentwickelt: Die Schüler:innen gewinnen die Erkenntnis, dass Geschichte wesentlich über Narrationen, also erzählende Darstellungen von Geschichte, vermittelt und von handelnden Subjekten gestaltet wird.

Das Richtziel soll hier sein, eine historische Figur kennenlernen und deren Lebensumstände und ihren Beitrag zur Gesellschaft erfassen. Als Grobziel gilt, das Leben und Wirken von Lise Meitner kennenzulernen und den Einfluss von Meitner auf die heutige Physik und Politik (und den Kalten Krieg) zu erfassen und zu bewerten. Hierfür sollen die geplanten Arbeitsaufträge der Stunde realisiert werden. Dazu dienen Gruppenarbeiten zu verschiedenen Quellen, in denen es um das Erkennen und Zusammentragen von Ergebnissen geht, also z.B. um prägende Erlebnisse wie Flucht und die fehlende Anerkennung durch Otto Hahn, sowie um die Situation als marginalisierte Wissenschaftlerin im Naziregime.

Das Unterrichtsprinzip ist hier die Personalisierung, da es Lise Meitner als bekannte Persönlichkeit aufgreift und anhand ihrer Biografie Geschichte für die Schüler:innen zugänglich macht. Eine andere Möglichkeit könnte, wie bereits erwähnt, die Verbindung zum Kalten Krieg und zur Aufrüstung der Atommächte sein. Dies sollte aber am besten direkt nach der Stunde zu Lise Meitner angesetzt werden. So lernt man zuerst etwas über Frau Meitner und ihre Entdeckung der Kernspaltung und inwiefern ihre Entdeckung zum Bau der Atomwaffen beitrug. Das übergeordnete Ziel der Unterrichtseinheit ist die Vermittlung und Fokussierung auf die Kompetenzen der Schüler:innen. Die Stellung der Stunde soll besonders transparent gestaltet und kommuniziert werden.

In Vorstunden sollten die Schüler:innen bereits über die nationalsozialistische Diktatur und das Leben damals aufgeklärt worden sein. Die Einordnung der Stunde in eine Unterrichtseinheit kann somit, je nachdem ob man es in der 9. Klasse oder in einer 10. Klasse ansetzt, mit Flucht und Vertreibung marginalisierter Gruppen, zu denen Lise Meitner gehörte, erfolgen. Das Unterrichtsprinzip ist hier die Personalisierung, da es Lise Meitner als bekannte Persönlichkeit aufgreift und anhand ihrer Biografie Geschichte für die Schüler:innen zugänglich macht. Eine andere Möglichkeit könnte, wie bereits erwähnt, die Verbindung zum Kalten Krieg und zur Aufrüstung der Atommächte sein, wobei dies aber am besten direkt nach der Stunde zu Lise Meitner angesetzt werden sollte. So lernt man zuerst etwas über Frau Meitner und ihre Entdeckung der Kernspaltung, als auch über das unrechtmäßige Übersehen bei der Verleihung des Nobelpreises es, den sie ihrer Meinung nach auch verdient hätte, und inwiefern ihre Entdeckung zum Bau der Atomwaffen beitrug. Das übergeordnete Ziel der Unterrichtseinheit ist die Vermittlung und Fokussierung auf die Kompetenzen der Schüler:innen und die Stellung der Stunde besonders transparent gestaltet und kommuniziert wird.

Didaktische Schwerpunkte

Um das in der Sachanalyse ermittelte Fachwissen zu den Schüler:innen in Beziehung zu setzen, muss die komplexe Wirklichkeit des Unterrichtsgegenstandes reduziert bzw. vereinfacht (didaktische Reduktion) werden. Im Fall von Lise Meitner ist es schwer didaktisch zu reduzieren, weil sie ein besonders ereignisreiches und produktives Leben hatte. Dennoch sollte mit Blick auf die zeitlichen Kapazitäten dahingehend reduziert werden, dass schon zu Beginn der Gegenwartbezug der Thematik den Schüler:innen vor Augen geführt wird. Deshalb wird die Stunde mit den neuesten Schlagzeilen der Tageschau begonnen, in denen es um die atomare Aufrüstung geht und die weltpolitische Lage zu Atomwaffen. Seit dem Ukrainekrieg und dem vermehrten Aufrüsten des Irans mit Blick auf den Nahost-Konflikt, ist diese Thematik von brisanter Wichtigkeit für die Heranwachsenden. Die Erzählung über das Leben von Lise Meitner muss hingegen drastisch reduziert werden. Die Lehrkraft sollte die frühen Jahre und Studium von Lise Meitner in einem kurzen Lehrervortrag zusammenfassen um die Schüler:innen auf die Stunde einzustimmen und ihnen Kontext zu geben. Außerdem ist dieser Abschnitt „weniger wichtig“ als ihr späteres Leben in Wissenschaft und auf der Flucht, das zu einem späteren Zeitpunkt von den Schüler:innen selbst erarbeitet werden soll, damit diese Informationen nachhaltig gespeichert werden können. Nach dieser Hinführung mit Gegenwartsbezug und einer kurzen Einführung, wer Lise Meitner war, sollen die Schüler:innen die wichtigsten Eckpunkte ihres Lebens in Gruppenarbeiten, sogenannten Expert:innengruppen, erarbeiten. Diese Eckpunkte sind „Beginn der Zusammenarbeit mit Hahn am Chemischen Institut in Berlin“, „Am Kaiser-Wilhelm-Institut und Erster Weltkrieg“, „Entzug der Lehrbefugnis und Flucht nach Schweden“ und „Die Entdeckung der Kernspaltung“. Denn diese vier Kapitel werden als besonders wichtig erachtet, weil sie als die Höhepunkte und die wichtigsten Phasen in Lise Meitners Leben identifiziert werden können.

Hier müssen die Themen aber (erneut) drastisch reduziert werden, da es sich hierbei um die Entwicklungen von mehreren Jahren handelt, weswegen aus diesen wichtigen Abschnitten auch wiederum nur die entscheidenden Ereignisse besprochen bzw. erarbeitet werden sollen. Es soll hier schon für die Schüler:innen ersichtlich werden, dass Lise Meinters Leben bereits von Anbeginn erschwert wurde durch ihr Geschlecht. Ihre Arbeit am Chemischen Institut soll deshalb nur daraufhin thematisiert werden, dass sie damals bereits ihre ersten wichtigen Kontakte knüpfte und Otto Hahn kennenlernte, aber auch starke Diskriminierung durch das preußische Recht erfuhr. Die Erfindung der Rückstoßmethode soll außerdem kurz angesprochen werden. Als sie später ans Kaiser-Wilhelm Institut wechselte, war sie zwar die erste Frau, die dort arbeitete, aber ohne Bezahlung. Ihr Wirken als Röntgenschwester an der Front im Ersten Weltkrieg unterbrach ihre Arbeit, und es soll den Schüler:innen bewusst werden, dass Lise Meitner in einer Zeit des politischen Umschwungs und der Krisen lebte, zu denen sie bereits auch etwas gelernt haben sollten. Nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg bekam Lise Meitner, nach ihren größtenteils eigenen Forschungen, endlich eine bezahlte Stelle. Dieser Abschnitt von Meitners Leben ist nicht so ausführlich beschrieben, weshalb bei einer Klasse mit ungerader Schülergröße eine „kleinere“ Gruppe diesen Abschnitt übernehmen sollte. Den Entzug ihrer Lehrbefugnis, nachdem sie erst kurz zuvor habilitiert hatte, sollen die Schüler:innen hier als Anfang der Krise in Lises Leben begreifen und anschließend herausarbeiten, inwiefern die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges im faschistischen Deutschland ihr Leben beeinflussten. Hier ist es wichtig, dass die Schüler:innen erkennen, dass Lise Meinter als Österreicherin erst noch „sicher“ war, aber später, nachdem Deutschland Österreich annektiert hatte, ebenfalls zur Flucht gezwungen war. Ihre Flucht nach Schweden gelang ihr nur durch die Hilfe von Otto Hahn und einem befreundeten Wissenschaftler, bis sie schließlich an das Nobel-Institut in Stockholm gelangte. Diese Flucht ist vor allem der Vollständigkeit halber wichtig, aber auch um zu zeigen, wie Menschen die Flucht gelang. Die sozialen Aspekte von Flucht sollen deutlich werden. Im letzten Abschnitt, der durch die Gruppenarbeiten erschlossen werden soll, ist besonders wichtig, dass es um die Entdeckung der Kernspaltung geht, die weitreichende Auswirkungen auf die Wissenschaft und Menschheit hatte. Wie diese Entdeckung funktionierte und wie Hahn und Meitner über den Kontinent mit Briefen über das „Zerplatzen“ von den Atomkernen diskutierten, soll erarbeitet werden. Der Fokus soll hier deutlich darauf liegen, welchen Beitrag Lise Meitner leistete, damit die Schüler:innen anschließenden kritisch hinterfragen können, warum es als Unrecht angesehen wird, dass sie nie einen Nobelpreis gewann, aber Hahn schon. Falls hier Diskussionen im Plenum entstehen, sollten diese nicht unterbrochen werden. In diesem Fall kann gleich zum Begriff „Matilda Effekt“ übergegangen werden. Bleiben Diskussionen aus, werden anschließend die Erkenntnisse der Expert:innengruppen in einem Hefteintrag gesichert.

Im nächsten Teil der Unterrichtseinheit sollen die Schüler:innen anhand von Textquellen (Originalzitate aus Briefen und Rede von Otto Hahn) verschiedene Fragen beantworten, die im Grunde noch einmal darauf abzielen, dass Thematiken wie Sexismus, Antisemitismus und Diskriminierung in Lise Meitners Leben deutlich erkennbar werden. Die Briefe und Hahns Bankettrede anlässlich der Nobelpreisverleihung spiegeln den Matilda-Effekt wider, der anschließend von der Lehrkraft vorgestellt und definiert werden soll.

Welche Folgen zog nun die Entdeckung der Kernspaltung nach sich und wie betraf dies Meitner nachhaltig? Im offenen Gespräch dürfen und sollen Mutmaßungen geäußert werden. Die Lehrkraft kann Hinweise auf den Kalten Krieg geben und so das Vorwissen der Schüler:innen aktivieren. Falls die Unterrichtsstunde in einer 9. Klasse gehalten wird, die sich noch nicht mit dem Kalten Krieg befasst hat, kann die Lehrkraft einen Einblick in die Nachkriegsjahre und Hiroshima und Nagasaki geben, ganz nach dem Unterrichtsprinzip „Transparenz“, bei dem die Schüler:innen in die Planung und Zielsetzung einbezogen werden sollten. Um die Stunde dann abzurunden, sollte noch einmal auf die Schlagzeilen am Anfang verwiesen werden, dass atomare Aufrüstung ein aktuelles Gegenwartsthema ist und auch in der Wirklichkeit der Schüler:innen eine Rolle spielt. So gelingt die Schulung der kritischen Kompetenz mit dem Zusatz, dass den Schüler:innen am Ende klar sein muss, dass Lise Meitner nicht an dem Bau der Atombombe beteiligt war und sich immer gegen den Bau einer solchen Massenvernichtungswaffe ausgesprochen hat.

Zu erwartende Schwierigkeiten der Stunde sind zum einen mangelndes Vorwissen, auf dem vor allem der letzte Teil der Stunde aufbaut, aber auch die Thematik an sich. Krieg und Diskriminierung sind zentrale Themen der heutigen Gesellschaft und sollten unbedingt im Unterricht behandelt werden. Allerdings sollte die Lehrkraft dabei sehr sensibel umgehen und den Schüler:innen bei Gesprächsbedarf durch Belastung als Gesprächspartner:in zur Verfügung stehen.

Begründung für die gewählten Ziele

Die Kompetenzen, die die Schüler:innen erreichen sollen, sind fest verankert im LehrplanPlus. Es ist allerdings unmöglich, alle Kompetenzen in eine Unterrichtssequenz zu packen. Aus diesem Grund sollten spezifische Methoden, Medien und Sozialformen verwendet werden, um die bereits beschriebenen Kompetenzen zu fördern.

Die geplante Gruppenarbeit soll die Kommunikations- und Teamfähigkeit der Schüler:innen stärken. Außerdem fördert soziales Lernen auch die Hilfsbereitschaft und die Fähigkeit Kompromisse zu schließen.

Sozialform: Gruppenarbeiten/Kurzprojekt

Initiierungsphase: Thema „finden“ (Kreative Kompetenz)

Einstiegsphase: Gruppenmitglieder kennenlernen, Thema vorstellen (Informationskompetenz, Soziale Kompetenz)

Planungsphase: (Kooperationskompetenz, Kreative Kompetenz)

Präsentationsphase: Schüler:in kann Erarbeitetes dokumentieren und präsentieren (Methodenkompetenz)

Auswertungsphase: Schüler:in kann Erfolge und Misserfolge wahrnehmen und entsprechend damit umgehen (Selbsteinschätzung und Selbstvertrauen, Personale Kompetenz)

Weiterführungsphase: Gelerntes und Evaluiertes anwenden können und so das eigene Vorgehen optimieren (Transfer Kompetenz)

Die Einzelarbeit hingegen soll mit der Arbeit an den Briefausschnitten die individuellen Kompetenzen der Schüler:innen wie Konzentrationssteuerung und Eigenverantwortung stärken. Gleichzeitig bildet die Quellenanalyse der Einzelarbeit eine Möglichkeit, das kritische Arbeiten mit historischen Überresten zu üben und zu bewerten.

Die technische Bildung, die noch nicht genannt wurde, aber im LehrplanPlus als übergeordnete Kompetenz verankert ist, meint die gezielte nutzbringende Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Technik bedeutet Fortschritt, kann aber auch Gefahren für den Einzelnen, die Gesellschaft und die Umwelt in sich bergen, wie am Beispiel der Kernspaltung leicht erkennbar ist. Die Schüler:innen „reflektieren die Chancen und Risiken neuer technischer Entwicklungen und deren Folgen. Sie handeln auf der Grundlage eines ethisch-moralischen Bewusstseins nach ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Kriterien“. (Schulart- und fächerübergreifende Bildungs- und Erziehungsziele 2023)

Die Schlagzeilen zu Beginn der Unterrichtsstunde soll den Schüler:innen einen Realitätsbezug der Thematik geben und verständlich machen, weshalb das Thema relevant ist für die Schüler:innen. Selbsterstellte Arbeitsblätter der Gruppenarbeit und der Einzelarbeit dienen dem Zwecke der didaktischen Reduktion und unterstützend variable Kompetenzen.

Dokumentensammlung für Lehrkräfte

Hier möchte ich meine selbst erstellten Arbeitsmaterialien, Hefteinträge und eine Projektarbeit für die eben vorgestellte Stunde zur Verfügung stellen.

Literatur

Braunisch/Wgrzyn 2024: Lena Braunisch/Eva Wegrzyn: Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen – Dialoge über strukturelle Hindernisse und Handlungsspielräume, in: Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW, Nr. 54 (2024), S. 32–37.

Corradini/Geiger/Mazohl 2021: Doris A. Corradini/Katja Geiger/Brigitte Mazohl: Lise Meitner (1878–1968): Pionierin der Atomphysik, in: Ute Frevert/Ernst Osterkamp/Günter Stock (Hrsg.): Women in European Academics. Discourses on Intellectual Europe, Band 3, Boston/Berlin 2021, S. 173–189.

Ernst 1992: Sabine Ernst: Lise Meitner an Otto Hahn. Briefe aus den Jahren 1912–1924, in: Rudolf Schmitz/Fritz Krafft (Hrsg.): Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Band 65, Stuttgart 1992.

Fachprofil Geschichte 2023: Fachprofil Geschichte, LehrplanPlus Bayern 2023, in: online-Website des Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (ISB), abgerufen unter: https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/realschule/geschichte/10, zuletzt abgerufen am 10.11.2024.

Jahrgangsstufenprofil 2023: Jahrgangsstufenprofil, LehrplanPlus Bayern (Oktober 2023), in: online-Website des Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (ISB), abgerufen unter: https://www.lehrplanplus.bayern.de/jahrgangsstufenprofil/realschule/10, abgerufen am 10.11.2024.

Lemmerich 1998: Jost Lemmerich (Hrsg.): Lise Meitner – Max von Laue. Briefwechsel 1938–1948, in: Berliner Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik (BBGNT), Berlin 1998.

Rossiter 2003: Margaret W. Rossiter: Der Mathäus Matilda Effekt in der Wissenschaft, in: Theresa Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, transcript: Bielefeld 2003, S. 191-201, https://edoc.bbaw.de/frontdoor/index/index/docId/417

Schulart- und fächerübergreifende Bildungs- und Erziehungsziele 2023: Schulart- und fächerübergreifende Bildungs- und Erziehungsziele sowie Alltagskompetenz und Lebensökonomie, LehrplanPlus Bayern 2023, in: online-Website des Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (ISB), abgerufen unter: https://www.lehrplanplus.bayern.de/uebergreifende-ziele?thema=24774#thema_24774, zuletzt abgerufen am 16.12.2024.

Sime 1998: Ruth Lewin Sime: Lise Meitner and the Discovery of Nuclear Fission, in: Scientific American, Vol. 278 (1998), 1, S. 80–85.

Anna Hemberger studiert Realschullehramt für die Fächerverbindung Deutsch und Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Zuge eines wissenschafts-historischen Seminars verfasste sie im Wintersemester 2024/25 ein Unterrichtskonzept zu einer starken Frau der Vergangenheit. Sie hofft, dass (angehende) Lehrkräfte dieses Unterrichtskonzept zukünftig erfolgreich in ihren Unterricht integrieren können.

Diesen Beitrag zitieren: Anna Hemberger: Wie kann man starke Frauen im Unterricht sichtbar machen? Ein Unterrichtskonzept zur Kernphysikerin Lise Meitner (1878-1968), in: AktArcha -Akteurinnen archäologischer Forschung und ihre Geschichte(n), 31.7.2025, URL: https://aktarcha.hypotheses.org/10171


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Gastautorin (31. Juli 2025). Wie kann man starke Frauen im Unterricht sichtbar machen? Ein Unterrichtskonzept zur Kernphysikerin Lise Meitner (1878-1968). AktArcha. Abgerufen am 11. November 2025 von https://doi.org/10.58079/14e0p


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.